Eine meiner ersten Kunstausstellungen fand 1992 in Leuste bei Dülmen statt. Hier begegnete ich der Künstlerin Dorothea Neumann aus Osnabrück. Da der Besuch sehr mäßig war, von Verkäufen ganz zu schweigen, verkauften Dorothea und ich jeder dem anderen ein Kunstwerk zum gleichen Preis. Mein Werk hatte den Titel „Schmetterlinge trotzen Stürmen“, das ihre war ohne Titel als eine große informelle Malerei, die ich noch heute besitze. Wir führten tiefe Gespräche über die Kunst und deren Sinn und gründeten eine für uns eigene Kunstrichtung durch Bildung der Künstlergruppe „Leuster Gruppe des emanzipationsbedingten informellen Visionismus“. Nähere Informationen siehe unter Ausstellungen 1992 "Kunst auf der Tenne".
Emanzipationsbedingter informeller Visionismus
Der Begriff “emanzipationsbedingter informeller Visionismus” beschreibt eine spezifische und neuartige Richtung in der Kunst, die wir 1992 als kleine Künstlergruppe entwickelten. Diese Richtung umfasst alle künstlerischen und schriftstellerischen Darstellungen, die durch Prozesse der Emanzipation beeinflusst werden.
Generell lässt sich der Begriff in drei Teile zerlegen: Emanzipation, Informelles und Visionismus. Emanzipation bezieht sich auf die Befreiung von künstlerischen, sozialen, politischen oder wirtschaftlichen Einschränkungen. Das Informelle in der Kunst wird oft auf nicht gegenständliche und spontane Werke reduziert, sollte jedoch weiter gefasst werden. Es umfasst alle Materialien und Formen, unabhängig davon, ob vorgegebene Formen verwendet, vermischt oder durch neue Materialien ergänzt werden. Der Künstler sollte mehrere Kunststile entwickeln, anstatt sich auf einen einzigen zu beschränken. Visionismus schließlich zielt darauf ab, Visionen oder Zukunftsvorstellungen zu entwickeln, die für die Befriedung aller Gesellschaften notwendig sind.
Gemeinsam beschreibt der emanzipationsbedingte informelle Visionismus eine Theorie oder Praxis, bei der Visionen für die Zukunft künstlerisch stark von Prozessen der Emanzipation beeinflusst oder angetrieben werden. Im künstlerischen und schriftstellerischen Bereich geht es darum, Befreiungsbewegungen und Gleichberechtigung als neue Zukunftsvisionen durch Kunst hervorzubringen und diese dort zu gestalten, wo das gewünschte Publikum ist – also auch außerhalb der Kunstvereine, hin zum öffentlichen Allgemeinpublikum und zu den Menschen und Mächtigen.
Seit geraumer Zeit fehlt es uns an Visionen. Vor nicht allzu langer Zeit gingen die Menschen noch für eine gute, gerechte Gesellschaft auf die Straße, wie etwa während des Vietnamkriegs oder gegen Atomkraftwerke. Für uns Jüngere war es damals eine heilige Pflicht, durch Revolte die gesellschaftlichen Verhältnisse zum Besseren zu verändern. Wir hatten Utopien, die nicht sofort verwirklicht wurden, sich aber in eine gerechtere Richtung entwickelten. Heute geht kaum noch jemand für Utopien auf die Barrikaden, außer vielleicht, um einen Strommast oder ein Flüchtlingsheim zu verhindern, was bedauerlich ist.
Menschen sind Zukunftswesen! Ohne die Vorstellung eines besseren Morgen verkümmern wir und alte Dämonen kehren zurück, wie wir unlängst bei den Wahlen im Osten Deutschlands erfahren mussten. Der emanzipationsbedingte Visionismus soll durch Kunst und Literatur die allgemeine Motivation der Machtausübenden zu positiven Veränderungen anregen, um das Dopamin-System der bisher Benachteiligten ins Gleichgewicht zu bringen. Dies trägt auch zur Verbesserung der individuellen Gesundheit bei. Und dazu bedarf es keiner Medikamente.
Allein ein Blick auf die Wohnanlagen an manchen Stadträndern zeigt auf erschreckende Weise, dass bereits dies einen Mangel an innerer Zukunft in den Seelen verursachen kann. Ähnliches gilt für die zunehmende Armut, die ungleiche Vermögens- und Einkommensverteilung, die vorherrschende Gewalt und Korruption, die Kriege und viele weitere Probleme. Der emanzipationsbedingte informelle Visionismus kann dazu beitragen, Menschen in der Gesellschaft zu halten und diejenigen, die am Rande stehen, wieder in die Gesellschaft zu integrieren, damit sie wieder aktiv daran teilhaben können. Um dies zu erreichen, muss der emanzipationsbedingte informelle Visionismus diese Probleme aufzeigen und den hierfür verantwortlichen Menschen näherbringen.
Beim emanzipationsbedingten informellen Visionismus im künstlerischen und schriftstellerischen Bereich geht es nicht um die Forderung nach einem großartigen Lebens im Reichtum. Vielmehr soll denjenigen, die Strukturen verändern können, offen mit künstlerischen Mitteln aufgezeigt werden, dass eine Rückkehr zu Freiheit, Gleichheit und Brüder- oder Schwesterlichkeit anzustreben ist, also eine inklusive Gesellschaft zu schaffen, in der jeder Mensch seinen Platz findet und sich wertgeschätzt fühlt. Kunst und Literatur können und müssen dazu anregen. Der emanzipationsbedingte informelle Visionismus muss ohne Zielvorgaben darum weg aus den reinen Kunst- und Kulturvereinen hin zu den Menschen gehen.
Dass Kunst und Kultur, wenn man zu den Menschen geht, neues Denken fördern und zu einer in allen Hinsichten befriedeten Welt beitragen können, habe ich beispielsweise mit meiner Ausstellung gegen Krieg, Gewalt und Intoleranz erlebt. Diese begann 1995 unter dem Titel „Sarajevo“ in Espelkamp und wanderte von dort über Kirchen, Länderveranstaltungen, Landtage, Skulpturengärten und Galerien bis hin zu Museen in Sarajevo im Jahr 2023. Die Ausstellung besteht bis heute in Sarajevo und teilweise in einem Skulpturengarten in Spanien fort und erreichte in den fast 30 Jahren ihres Bestehens etwa 100.000 Menschen, begleitet von Presse- und Fernsehberichten in Spanien, Deutschland, Bosnien-Herzegowina, Anatolien und sogar China. Nach meiner Ausstellung im Landtag von Sachsen-Anhalt, die mir vieles Unangenehme abverlangte, löste sich die rechtsextreme DVU, die mit 14 % in den Landtag eingezogen war, nicht viel später auf und verschwand in der Bedeutungslosigkeit. Ein kleiner Beitrag dazu war auch meine Ausstellung von 1999 im Landtag von Sachsen-Anhalt mit dem Thema „Kunst gegen Gewalt, Rassismus, Nationalismus, Menschenverachtung und Fremdenhass! Vereinte Demokraten gegen Gewalt und Intoleranz“.
Ein wichtiger Teil meiner Arbeit war auch meine Motorradreise durch Europa. Beginnend in der Mitte Deutschlands, erreichte ich den südlichsten Punkt Europas, Teile Afrikas und schließlich das Nordkap, bevor ich zurückkehrte. Durch Gespräche, die oft durch meine Platzabriebe in den verschiedenen Ländern und Städten entstanden, bekam ich Zugang zu vielen dort lebenden Menschen und lernte so auch die unterschiedlichen Kulturen und Denkweisen besser kennen. Meine Reisen sind bis heute ein Teil meiner Kunst. So schuf ich Werke in über 60 verschiedenen Orten Europas. Oft handelt es sich dabei um kleine Kunstwerke, damit sie in meine „Reisetaschen“ passten.
In Spanien, wo ich das "Künstlerdorf „Bodega Vino y Arte“ mit der „kleinsten Schaubühne der Welt“ in der dortigen Kunst-Galerie gründete, herrschte eine beängstigende Korruption, die sich durch die gesamte spanische Gesellschaft und Politik zog. Auch wir waren stark betroffen. Spanische Jugendliche erhielten oft nur durch Akzeptanz der Korruption Ausbildungsplätze, Arbeitsplätze, Studienplätze und Wohnungen. 2011 hatte ich genug und wurde Mitglied der „Bewegung 15. Mai“. Unsere Revolte begann vor einem korrupten Gericht mit einem Hungerstreik und einer Kunstaktionen gegen die Korruption, die viele Menschen anzogen.
Der Protest setzte sich in einem künstlerischen Protestmarsch über Málaga, Sevilla, Córdoba und Toledo nach Madrid fort, wo ich meine Protestnote dem Königshaus übergab. Durch diese gemeinsame Revolte mit vielen spanischen Jugendlichen änderte sich viel. Das bisherige politische System löste sich auf, und nach Neuwahlen entstand die Partei „Podemos“, die bis heute im Parlament vertreten ist.
Auch die Korruption gegen uns endete nach acht Jahren, flammte 2017 noch einmal auf und endete schließlich mit einer Anklageerhebung gegen unsere korrupten Gegner durch die spanische Zentralregierung. Korrupte Verhältnisse ändern sich nur langsam. Aber wenn wir heute Spanien betrachten, hat sich unser Einsatz, insbesondere unterstützt durch Kunst und Literatur, gelohnt. Einen kleinen Teil dazu habe auch ich beigetragen, indem ich durch die künstlerische Anwendung des emanzipationsbedingten informellen Visionismus Menschen bewegte, gemeinsam neue Zukunftsvisionen mithilfe von Kunst und Literatur zu entwickeln und zu gestalten.
Größer, exklusiver, teurer. Die internationale Kunstwelt erlebt seit Jahren eine entfesselte Spirale der Rekorde. Ein Preisrekord jagt den nächsten. Die meisten dieser Werke sind groß, bunt und teuer. Sie passen weder in die Zimmer noch in das Budget von Menschen bis zur Mittelschicht. Hierdurch entzieht der Kapitalismus der Mehrheit der kunstinteressierten Menschen die Kunst. Kunstproduktion und Kunsthandel haben sich von der Lebensrealität vieler Menschen entfernt. Dadurch verliert die Kunst ihre soziale Struktur, die aber notwendig ist für eine kritische und gesunde Gesellschaft. Die Kunst-Ära der Superlative muss enden oder im Superkapitalismus für sich separat als reines Spekulationsmodell eingeordnet werden.
Es ist höchste Zeit, die vermeintlich „kleine Kunst“ zu verteidigen – eine Kunst mit Augenmaß. Kleine Formate fordern uns heraus, genauer hinzusehen und uns auf das Überschaubare zu konzentrieren in einer reizüberfluteten Welt. Wir müssen unseren Blick für das Kleine, das leicht Übersehbare und das monetär Erschwingliche schärfen, um der „kleinen Kunst“ den Platz einzuräumen, der ihr zusteht. Es muss ein großer Platz sein, denn diese Kunst ist mitten ins Leben zu integrieren – nicht nur als ästhetisches Objekt oder zur Bewunderung, sondern als Begleiter unseres Alltags. Das ist überfällig.
Doch was ist eigentlich „kleine Kunst“? Diese Kunstform kann durch ihre Beschränkung ästhetische Kräfte konzentrieren, die weit über die physischen Dimensionen eines Werks hinausgehen. Sie zeichnet sich auch durch ihre revolutionäre Sprache und politische Wirkkraft aus. Kleine, bezahlbare Kunst ist räumlich und finanziell zugänglicher. Wer sie gering schätzt, unterliegt einem fatalen Irrtum unserer Zeit. Die Tradition der formalen Begrenzung in der Kunst reicht weit zurück.
Das beweist, dass auch Künstler mit kleinem Oeuvre und relativ kleinen Bildern einen großen Platz in der Kunstwelt einnehmen können und werden. Kleinere Kunstformate bemessen sich nicht am Preis, sondern an ihrem teils revolutionären Ausdruck und ihrer politischen Wirkkraft. Sie stehen für eine Demokratisierung der Kunst. Das zeigt auch ein Blick in die Kunstgeschichte. Kleine Bilder haben oft einen anderen Schaffensprozess. Sie sind weniger Statement, sondern haben eine intime Essenz.
Kunst hat ihren Preis - ist nicht beliebig. Sie sollte aber sozial erschwinglich sein. Es ist daher die Aufgabe von Künstlern und Galeristen, kleinen Kunstwerken mit fairen Preisen endlich die ihnen gebührende Bedeutung zu verleihen. Durch diese Demokratisierung der Kunst werden alle kunstinteressierten Bürger/innen in die Lage versetzt, Unikate zu erwerben. Denn ein Unikat hat eine andere Wirkung als eine Kopie oder Abbildung. Außerdem wird ein Unikat in den meisten Fällen seinen Wert nicht nur erhalten, sondern im Laufe der Zeit steigern, wie die genannten Beispiele zeigen. Das kleine Format hat also mindestens die gleiche Daseinsberechtigung in der Kunst wie großformatige Werke.
Die demokratischen Aspekte der zugänglichen und erschwinglichen Kunst liegen auch in ihrer leichten Verbreitbarkeit. All dies ist auch ein Werkzeug zur sozialen Veränderung, das dem Bürgertum demokratischen und freien Zugang zur Kunst ermöglicht. Diese Kunst und ihre Diskurse schärfen den Blick für das scheinbar Unbedeutende und Übersehene und sind monetär erschwinglich. Diese Hinwendung zum Bescheidenen und Zugänglichen erscheint mir als genau die revolutionäre Geste, die unsere Zeit braucht. Wir sollten der kleinen Kunst großen Platz einräumen und sie mitten ins Leben integrieren – nicht nur als Objekt der Bewunderung, sondern als Begleiter unseres Alltags. Wir, die Galeria Arte, und ich, Gerhard Pollheide, als Künstler, handeln so, wie beschrieben, um der kleineren Kunst die Größe wiederzugeben, die ihr zusteht.
Siehe hierzu auch https://www.deutschlandfunk.de/plaedoyer-fuer-die-kleine-kunst-100.html. Dieser Beitrag von Hilka Dirks zielt in die gleiche Richtung und deckt sich mit meinem bisherigen künstlerischen Denken, das hier in meinem Aufsatz mündet.